Zum Inhalt springen

Die Impfpflichtentscheidung – Gewissensfrage mit prozeduralen Fallstricken

Voraussichtlich im März wird der Bundestag über Anträge zu einer Impfpflicht in Deutschland entscheiden. Analog zu anderen bedeutenden ethischen Fragen, sind sich die Fraktionen bisher einig die Fraktionsdisziplin (nicht Fraktionszwang!) aufzuheben und die Entscheidung zu einer sog. Gewissensentscheidung zu machen. Zwar sollten alle Entscheidungen des Bundestages Gewissensentscheidungen der Abgeordneten sein, aber darum soll es nun nicht gehen.

Aufgrund der mangelnden Fraktionsdisziplin und der komplexen Fragestellung ist noch nicht abzusehen, welcher Vorschlag zu einer möglichen Impfpflicht eine Mehrheit findet. Bisher sind ebenfalls auch nur Absichtserklärungen veröffentlicht worden; an den tatsächlichen Gesetzesentwürfen wird noch gearbeitet. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass es mindestens 3 Vorschläge geben wird, die in einer sog. Sternstunde des Parlaments abgestimmt werden. Von einer allgemeinen Impfpflicht über eine partielle Impfpflicht bis hin zur Ablehnung jeglicher Impfpflicht reicht das Meinungsspektrum. Es ist wahrscheinlich, dass die CDU/CSU Fraktion noch einen eigenen Gesetzesentwurf einbringt und ebenfalls möglich, dass aufgrund der komplexen Lage auch noch weitere Gesetzesentwürfe vorgeschlagen werden.

Die Abstimmung mehrerer unterschiedlicher Vorschläge zur gleichen Sache weicht von der üblichen Gesetzgebungsform ab bei der jeweils eine Fraktion einen Antrag einbringt wobei normalerweise nur die Vorschläge der Regierungsfraktionen eine Mehrheit erreichen. Diese Art der „Gewissensabstimmungen“ gab es bereits bei wichtigen ethischen Entscheidungen wie zur Organspende oder der Präimplantationsdiagnostik.

Dabei stellt sich die nicht zu vernachlässigende Frage wie über diese konkurrierenden Vorschläge abgestimmt werden soll. Laut Grundgesetz und Geschäftsordnung des Bundestages muss ein Gesetz mit einfacher Mehrheit beschlossen werden. Die Vorschläge können daher nicht gegeneinander abgestimmt werden, sondern werden als jeweils eigene Gesetzesvorlagen einzeln abgestimmt. Bei solchen Abstimmungen über mehrere Alternativen gibt es methodische Fallstricke, die das Ergebnis einer Abstimmung verändern können ohne dass sich die Präferenzen der Abstimmenden geändert haben.

Zentral ist dabei die Sozialwahl-Theorie (Social Choice Theory), die William Riker maßgeblich prägte. In seinem Hauptwerk Liberalism vs. Populism (1982) beschreibt er Kriterien für wahre und gerechte Abstimmungsergebnisse und welche Faktoren Abstimmungen beeinflussen, sodass in der Realität kaum Abstimmungen allen Kriterien gerecht werden können. Zentral ist seine spieltheoretische Herangehensweise mit der Annahme, dass sich alle Akteure rational und stets nach ihrer Präferenzenordnung verhalten.

Anhand der aktuellen Debatte um die Impfpflicht möchte ich Rikers prozedurale Argumente skizzieren, die Franz Urban Pappi bereits zur Bonn-Berlin-Frage aufgeworfen hat (1992). Pappi zeigt dort, dass die Abstimmungsreihenfolge der Anträge einen maßgeblichen Einfluss auf die Hauptstadtfrage genommen hat und möglicherweise sogar die getroffene Entscheidung erst mehrheitsfähig gemacht hat.

Wir nehmen an, es gäbe im Bundestag nur 3 Abgeordnete. Einer ist ein starker Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht, eine andere lehnt sie kategorisch ab und von einer dritten wir eine partielle Impfpflicht befürwortet. Die Präferenzenordnungen der drei Abgeordneten sehen wie folgt aus:

A: (allg. Impfpf. > part. Impfpf. > keine Impfpf.)

B: (keine Impfpf. > part. Impfpf. > allg. Impfpf.)

C: (part. Impfpf. > allg. Impfpf. > keine Impfpf.)

Nun werden die Vorschläge in unterschiedlicher Reihenfolge abgestimmt:

Fall 1
Fall 2
Fall 3

Im Fall 1 stimmt A für die allgemeine Impfpf., B und C dagegen, da sie so ihre erstpriorisierten Vorschläge noch durchsetzen könnten. Im nächsten Schritt stimmt C sicher für die partielle Impfpf., da Erstpräferenz. B wird weiterhin dagegen stimmen, da sie eine Impfpflicht ablehnt. A stimmt dafür, da dies nun seine Zweitpräferenz ist und für ihn besser wäre, als keine Impfpf.

Im zweiten Fall sieht das Ergebnis allerdings anders aus: nun stimmen A und B in der ersten Runde gegen die partielle Impfpf. Bei der zweiten Abstimmung stimmt A selbstverständlich für die allgemeine Impfpf. und C wird ebenfalls zustimmen, da ihre Erstpräferenz bereits abgelehnt wurde, sie aber eine allgemeine Impfpf. keiner Pflicht vorzieht. In diesem Fall würde dann eine allgemeine Impfpf. beschlossen.

In Fall 3 entscheidet sich der Bundestag wieder für eine partielle Impfpf. Hier ist es nun entscheidend wie strategisch sich A und C verhalten und wie viel Information C über die Präferenzenordnung von A hat. Kennt C die Präferenzen von A, so wird sie gegen eine allgemeine Impfpf. stimmen, da sie sich sicher sein kann, dass A die partielle Impfpf. ebenfalls unterstützen wird. Im Gegensatz zu anderen Gewissensfragen ist die Beibehaltung des Status Quo (keine Impfpflicht) ebenfalls ein präferiertes Ergebnis von manchen, das entstehen würde, wenn kein Vorschlag eine Mehrheit findet.

Ist sich C allerdings unsicher, ob A auch eine partielle Impfpf. unterstützen würde, so könnte sie ebenfalls zur Sicherheit für eine allgemeine Impfpf. stimmen, um zumindest ihre Zweitpräferenz durchzusetzen. Hier habe ich angenommen, dass die Präferenzenordnungen bekannt sind.

Dieses Beispiel zeigt, dass Abstimmungsergebnisse nicht nur von den Präferenzenordnungen der Abstimmenden abhängen, sondern oftmals auch maßgeblich durch die prozeduralen und organisatorischen Regeln beeinflusst werden.

Eine Lösung für das Problem der Abstimmungsreihenfolge ist es alle Vorschläge gleichzeitig auf einem Stimmzettel abzustimmen. Dies wurde z.B. bei der Präimplantationsdiagnostik so gemacht. Das löst zwar das skizzierte Problem der Reihenfolge, aber nicht das von strategischem Wählen.

Eine relevante Frage für Befürworter einer allgemeinen Impfpf. ist, ob sie sich sicher sind, dass ihr Vorschlag selbst eine Mehrheit hat. Wenn sie sich dem nicht sicher sind, könnten sie strategisch eher einer partiellen Impfpf. ihre Stimme geben, um so einem Kompromissvorschlag zu einer Mehrheit zu verhelfen. Da dies aber nur eine Annahme ist, könnte es auch sein, dass eine Mehrheit für eine allgemeine Impfpf. vorhanden wäre, allerdings nicht zu Stande kommt, da sich zu viele Abgeordnete darüber unsicher sind.

Eine Lösung für dieses Problem wäre die Abstimmung in Form einer übertragbaren Stimme. Damit würden die Abgeordneten ihre tatsächliche Präferenzenordnung auf die Vorschläge übertragen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass demokratische Abstimmungen oftmals schon allein aufgrund des Verfahrens nicht immer den Vorschlag beschließen, der von den Abstimmenden allgemein am meisten präferiert wird. Riker argumentiert daher, dass die Ansprüche an eine liberale Demokratie den Volkswillen zu repräsentieren reduziert werden müssen. Weder kann durch Wahlen und Abstimmungen stets ein klarer Volkswille ermittelt werden, noch können Abgeordnete stets aufgrund der Entscheidungsregeln die meistpräferierte Option beschießen.

Diese doch sehr theoretischen Überlegungen sollte man berücksichtigen, wenn über Wahlen und Abstimmungen gesprochen wird. Allerdings sind auch nicht perfekte Verfahren dennoch sehr gut in der Lage in der Regel den Mehrheitswillen abzubilden (Mackie 2003).


Referenzen

Mackie, Gerry. 2003. Democracy Defended. Cambridge: Cambridge University Press.

Pappi, Franz Urban. 1992. “Die Abstimmungsreihenfolge der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz am 20. Juni 1991 im Deutschen Bundestag.” Zeitschrift für Parlamentsfragen 23 (3): 403-412

Riker, William H. 1982. Liberalism Against Populism. San Francisco: W. H. Freeman.